Linie 66 fuhr führerlos durch Bonn Polizei wertet Fahrtenschreiber aus

Beuel · Nachdem eine Bahn der Linie 66 am Sonntagmorgen führerlos an acht Stationen vorbeigefahren war, ermittelt nun die Staatsanwaltschaft. Dabei wird auch der Fahrtenschreiber ausgewertet. Der Fahrer, der hinter dem Steuer einen medizinischen Notfall erlitt, ist mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen worden.

 Diesen Weg nahm die Linie 66.

Diesen Weg nahm die Linie 66.

Foto: Grafik GA

Es ist der absolute Horror für Fahrgäste: Eine Straßenbahn fährt führerlos durch die Nacht und die Passagiere können die Geisterfahrt nicht stoppen, weil auch die Notbremsen nicht funktionieren. Dies ist in der Nacht zu Sonntag mehreren Fahrgästen der SWB-Linie 66 so passiert. Die Bahn war führerlos an insgesamt acht Haltestellen durchgefahren, nachdem der 47-jährige Fahrer einen medizinischen Notfall erlitten hatte. Erst 200 Meter vor der Haltestelle Adelheidisstraße in Beuel kam die Bahn dank des beherzten Einsatzes von zwei Fahrgästen zum Stehen. Wie durch ein Wunder wurde bei der Geisterfahrt niemand verletzt.

Der 47-jährige Fahrer wurde mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen. Er sei weiter krankgeschrieben und lasse sich psychologisch betreuen, sagte eine Sprecherin der Stadtwerke am Montag. „Die Bahn ist sichergestellt“, sagte ein Polizeisprecher. Unter anderem werde der Fahrtenschreiber zur Dauer und Geschwindigkeit bei der Irrfahrt ausgewertet.

Zwei Männer im Alter von 26 und 29 Jahren, die sich mit weiteren acht Fahrgästen im ersten Waggon mit der Fahrerkabine befanden, haben nach Angaben von Polizeisprecher Robert Scholten die verschlossene Tür zur Fahrerkabine mit Gewalt aufgebrochen und unter telefonischer Anleitung der SWB-Leitstelle die Bahn stoppen können. Bei dem Aufbruch hätten sich die beiden Männer leicht an den Händen verletzt.

Weitere Fahrgäste saßen im hinteren Wagen, wie viele, das konnte Scholten nicht sagen. „Einige sind gleich gegangen, nachdem die Bahn gestoppt war.“ Informationen, nach denen die beiden Männer die Türscheibe mit einem Feuerlöscher eingeschlagen hatten, konnte Scholten nicht bestätigen. „Wir stecken noch mitten in den Ermittlungen“, sagte er am Sonntagnachmittag auf einer eiligst anberaumten Pressekonferenz in der Zentralen Leitstelle der SWB an der Thomas-Mann-Straße, an der neben Stadtwerkesprecher Jürgen Winterwerp auch Anja Wenmakers, Geschäftsführerin von SWB Bus und Bahn, und Jörn Zauner, SWB Betriebsleiter Bahn, teilnahmen. Die Stadtbahn wurde inzwischen von der Polizei beschlagnahmt, die Staatsanwaltschaft werde nun ermitteln, ob auch alle technischen Hilfsmittel richtig funktioniert haben, sagte Scholten.

Durch die alarmierten Rettungskräfte wurde der 47-jährige Fahrer vor Ort behandelt und mit einem Rettungswagen zur weiteren Behandlung in eine Klinik eingeliefert. Ihm gehe es, so Wenmakers, mittlerweile wieder besser. Die beiden Männer, die die Türe aufgebrochen hatten, hätten auf eine medizinische Behandlung verzichtet.

Fahrer verlor das Bewusstsein

Gegen 0.40 Uhr hatte die Einsatzleitstelle der Polizei gleich mehrere Notrufe aus der Bahn erreicht. Die Linie 66, die vom Siegburger Bahnhof aus in Richtung Bonn unterwegs war, hatte da laut Scholten gerade die Haltestelle Sankt Augustin-Zentrum ohne anzuhalten passiert. Nach bisherigen Erkenntnissen von Polizei und Stadtwerken muss der Fahrer nach der Haltestelle Sankt Augustin-Mülldorf das Bewusstsein verloren haben, erklärte Polizeisprecher Scholten.

Er berichtete außerdem, dass die Fahrgäste zunächst versucht hätten, die Bahn über die in den Wagen angebrachten Notbremshebel zu stoppen. Doch die Notbremsen sind so konzipiert, dass eine Bahn nicht einfach auf freier Strecke oder in einem Tunnel zum Stehen kommt, wenn ein Fahrgast den Hebel betätigt – schon aus Sicherheitsgründen, falls der Zug evakuiert werden muss, erklärte Jörn Zauner, SWB-Betriebsleiter Bahn. Deshalb laufe die Notbremsung über den Fahrer: Wenn die Notbremse gezogen wird, erhalte der Fahrer ein Signal. Dann könne er Rücksprache mit den Fahrgästen nehmen und den Zug gegebenenfalls stoppen. Dies war hier aber aufgrund des gesundheitlichen Zustands des Fahrers nicht mehr möglich.

Die SWB nahmen damit ihre erste Angabe zurück, dass die Notbremse aufgrund der Missbrauchs-Gefahr während der Fahrt nicht aktiviert sei. „Die Notbremse funktioniert nur im Bereich der Haltestellen bei langsamer Fahrt, wenn beispielsweise jemand auf die Gleise fällt“, hatte Veronika John von der SWB-Pressestelle noch am Sonntagmorgen mitgeteilt. Weitere Notmechanismen gebe es für solche Situationen jedoch nicht. „Dass einer unser Fahrer bewusstlos wird, ist ja auch eher ungewöhnlich“, hatte sie außerdem gesagt.

Auch weitere Informationen vom Vormittag mussten die SWB am Nachmittag korrigieren. So hatte es unter anderem zunächst geheißen, die Leitstelle der SWB, die von den Problemen auf der Linie 66 erst von der Polizei erfuhr, habe keine Möglichkeit gehabt, die führerlose Bahn von der Leitstelle aus der Ferne zu stoppen. „Wir können natürlich die Bahnen stoppen, indem wir den Strom abschalten“, so Zauner. Auf die Frage, warum die Leitstelle davon keinen Gebrauch gemacht habe, betonten Zauner und Wenmakers, dass es schließlich auch um den Fahrer gegangen sei und man sich für das Aufbrechen der Türe entschieden habe. Das sei die schnellere Lösung gewesen.

Eine weitere Aussage wurde am Sonntagnachmittag widerrufen: Anders als angegeben waren nicht alle Bahnschranken geschlossen, als die führerlose Bahn in Richtung Beuel rollte, sagte Zauner. Das betreffe vor allem Schranken nahe an Haltestellen. Warum die SWB-Leitstelle nicht über das sogenannte Totmann-Signal auf die Probleme in der Linie 66 aufmerksam werden konnte, müsse noch genau untersucht werden. Zurzeit gehe man davon aus, dass die Schaltung durch das Körpergewicht oder die Position des ohnmächtig gewordenen Fahrers nicht funktionierte.

Lob für die Passagiere

Betriebsleiter Zauner schloss allerdings aus, dass es die Bahn über die Kennedybrücke geschafft hätte. Nach ersten Überprüfungen hätten einige Fahrgäste auch die Notverriegelung der Türen betätigt. Das verlangsame eine Bahn automatisch, sie rolle dann sozusagen aus. So hätte die Bahn für eine Überfahrt über die Kennedybrücke nicht mehr genügend Tempo gehabt. „Sie wäre dort auf jeden Fall zum Stehen gekommen“, ist Zauner überzeugt, obgleich auch das noch genauer überprüft werden müsse. Unklar ist allerdings, wie schnell die Stadtbahn unterwegs war. Zauner geht von einer Geschwindigkeit von 40 bis 70 Stundenkilometern aus. Schneller als Tempo 80 könnten die Bahnen ohnehin nicht fahren.

 Polizeisprecher Scholten lobte die Passagiere, die sich trotz dieser Umstände besonnen verhalten hätten – „obwohl sie natürlich wirklich Angst hatten“. Vom ersten Notruf bis zum Zeitpunkt, als die Bahn gestoppt war und die Fahrgäste sie bereits verlassen hatten, seien zehn Minuten vergangen, sagte Scholten. Auch Wenmakers, die erst im Laufe des Vormittags über den Vorfall informiert worden war, lobte das Verhalten der Passagiere, die Stadtwerke würden sich bei allen noch ausdrücklich bedanken. Geschockt zeigte sich am Sonntag auch Oberbürgermeister Ashok Sridharan: „So etwas darf überhaupt nicht passieren“, sagte er dem GA. Sein Lob galt ebenfalls den Fahrgästen der Horror-Linie: „Sie haben in einer gefährlichen Situation genau das Richtige getan und so womöglich Leben gerettet. Ich lade sie gerne ins Alte Rathaus ein, um ihnen auch persönlich zu danken.“ Dem Fahrer wünsche er gute Besserung. „Von SWB Bus und Bahn erwarte ich eine gründliche Aufklärung des Vorfalls“, sagte Sridharan. Der 47-jährige Fahrer war laut Wenmakers erst seit diesem Herbst bei SWB Bus und Bahn im Einsatz.

Fahrgäste hatten Todesangst

Die Bahn, die er in der Nacht steuerte, ist seit Mitte der 1970er Jahre bei den SWB im Einsatz. Sie wurde Betriebsleiter Zauner zufolge allerdings im Rahmen des Zweitverwertungsprojekts der SWB Bus und Bahn in den vergangenen Jahren komplett überholt und anschließend von der Technischen Aufsichtsbehörde abgenommen worden.

Am Abend meldete sich der Sankt Augustiner Manfred Daas beim General-Anzeiger. Er sei mit seiner Frau in dem Geisterzug unterwegs gewesen und habe mit circa 20 Personen im hinteren Wagen gesessen. „Wir hatten Todesangst, wir konnten nichts tun“, berichtete der 61-Jährige. Seiner Meinung nach sei die Bahn deutlich schneller als mit Tempo 80 unterwegs gewesen. „Wir hatten totale Angst, dass die Bahn entgleisen könnte.“ Als die Bahn endlich stand, habe er die Notauslösung der Tür betätigt. Beim Ausstieg habe er sich eine Verletzung am Knie zugezogen. „Ich war am Morgen in der Notfallambulanz und habe anschließend Anzeige bei der Polizei gegen die SWB erstattet.“

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