Rekonstruktion der Geisterfahrt der Linie 66 Sechs Minuten zwischen Hoffen und Bangen

Bonn · Was geschah in der Linie 66 von Siegburg nach Bonn, nachdem der Fahrer ohnmächtig geworden war? Fahrgäste stoppten die Straßenbahn an der Adelheidisstraße - eine Rekonstruktion der sechs Minuten davor.

 Straßenbahn der Linie 66 an der Haltestelle Adelheidisstraße.

Straßenbahn der Linie 66 an der Haltestelle Adelheidisstraße.

Foto: Alf Kaufmann

Als die Linie 66 am frühen Morgen des 22. Dezember 2019 vom Siegburger Bahnhof in Richtung Bonn startet, läuft noch alles nach Plan. Die Bahn setzt sich um 0.33 Uhr auf Gleis 11 der unteren Ebene in Bewegung, ihr nächster Halt ist Sankt Augustin Mülldorf. Um 0.36 Uhr geht es weiter. Doch die beiden Waggons stoppen nicht, wie sonst üblich, am Halt Sankt Augustin Zentrum.

47-jähriger Fahrer der Linie 66 wird bewusstlos

Die etwa 20 Fahrgäste an Bord werden misstrauisch, ahnen aber noch nicht, dass der 47-jährige Fahrer die Kontrolle über das tonnenschwere Gefährt verloren hat. Er ist bewusstlos und blockiert mit seinem Körper die Sicherheitsfahrschaltung. Sie soll verhindern, dass eine Bahn einfach weiterfährt, wenn der Fahrzeugführer nicht mehr reagieren kann. Der sogenannte Totmannschalter wird durch das Gewicht weiterhin nach unten gedrückt. Erst, wenn er losgelassen wird, bremst er die Bahn innerhalb kürzester Zeit. Das geschieht aber nicht.

Geisterfahrt der Linie 66: Rekonstruktion der Ereignisse am 22. Dezember
Foto: GA Grafik

Stattdessen rast die Bahn mit Tempo 80 über die Gleise. Zwar ist die Strecke auch für höhere Geschwindigkeiten ausgelegt, sonst fahren die Waggons aber nicht schneller als 70 Kilometer pro Stunde. Als auch der Halt Sankt Augustin Kloster überfahren wird, dämmert einigen Personen, dass etwas nicht stimmt. Kurz darauf, etwa drei Minuten nach der Abfahrt, betätigt ein Insasse die Notbremse. Die Bahn hält aber nicht, sondern der Fahrer bekommt nur ein Signal, dass die Notbremse betätigt wurde.

Straßenbahn der Linie 66 rast mit 80 km/h durch Hangelar

Weil nichts geschieht, wird fünf Sekunden später auch die Tür­entriegelung betätigt. Doch auch jetzt bremsen die Waggons nicht: Die Technik sieht in diesem Fall vor, dass der Elektromotor ausgeschaltet wird. Von nun an rollt die Straßenbahn aus, aber immer noch mit etwas weniger als 80 km/h, zunächst durch Hangelar. Sie rast über die Bahnübergänge Bruno-Werntgen-Straße, Richthofenstraße, Am Herrengarten und Gartenstraße, ohne dass die Schranken sich schließen. Sie sind schlichtweg nicht schnell genug unten, weil die Bahn mit zu hohem Tempo unterwegs ist und die Schranken über Kontakte in den Gleisen automatisch gesteuert werden.

Mehrere Personen wählen den Notruf und erreichen die Polizei. Die wiederum vermittelt an die Leitstelle der Stadtwerke Bonn (SWB), die bislang nichts von dem Zwischenfall mitbekommen hat, weil die Strecke nicht überwacht wird. Am Telefon wird den Fahrgästen erklärt, wie sie die Bahn stoppen können. Sie treten das Türfenster der Fahrerkabine auf und finden dort den bewusstlosen Fahrer. Gegen 0.42 Uhr steht die Bahn an der Haltestelle Adelheidisstraße in Beuel.

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