Sicherheitsschaltung für Straßenbahnen Diese Folgen hat die Geisterfahrt der Linie 66 für NRW

Düsseldorf · Einen Monat nach der Geisterfahrt der Linie 66 durch Sankt Augustin und Beuel ziehen die Behörden Konsequenzen: Alle Bahnen in NRW sollen nun neue Sicherheitsfahrschaltungen erhalten.

 Die Geisterfahrt der Linie 66 hat Folgen für ganz NRW.

Die Geisterfahrt der Linie 66 hat Folgen für ganz NRW.

Foto: dpa/Roberto Pfeil

Es sind drastische Worte, die die Düsseldorfer Regierungspräsidentin Birgitta Radermacher am Dienstagnachmittag wählt. „Mit einer führerlosen Bahn durch die Nacht zu brausen, kennt man sonst nur aus Horrorfilmen.“ Bei der Untersuchung der Geisterfahrt der Linie 66 habe sie auch versucht, sich in die Lage der Fahrgäste zu versetzen. „Das lässt einem den Atem stocken. Ich wüsste nicht, was ich in so einer Situation gemacht hätte.“

Der Konjunktiv wird bei der Pressekonferenz im „Schlösschen“ genannten Verwaltungssitz der Düsseldorfer Bezirksregierung häufig benutzt. Im Musiksaal sitzen sich Vertreter der Behörde und Journalisten an einer großen Tafel gegenüber. Was wäre passiert, wenn die Fahrgäste die Bahn, die insgesamt 6,5 Kilometer unkontrolliert und mit Tempo 80 durch die Nacht raste, nicht gestoppt hätten? Wenn ein Auto die Bahnübergänge gekreuzt hätte? Wenn die Waggons noch weiter gerollt und nicht mehr in ihrem eigenen Gleisbett, sondern auf den Schienen gefahren wären, die in Beuel in die Straße eingelassen sind? Wenn die viel zu schnelle Bahn gar entgleist wäre? Radermacher will auf diese Spekulationen nicht eingehen. Aber für sie steht fest: „Es hätte alles viel schlimmer kommen können.“

Einen Monat lang hat die Technische Aufsichtsbehörde (TAB), die für alle 1700 Straßenbahnen in NRW zuständig ist, die Geisterfahrt der 66 intensiv untersucht. Der Bericht der Expertengruppe, geleitet von Dezernent Thomas Misiewicz, ist technisch, nüchtern und ehrlich. Er macht aber auch klar, dass es nicht die Aufgabe der TAB war, die juristische Schuldfrage zu klären. „Das ist Sache der ermittelnden Behörden.“

War die Technik der Linie 66 in Ordnung?

Für Misiewicz ging es darum, zu überprüfen, ob die Technik der Straßenbahn in Ordnung war und die organisatorischen Abläufen stimmten. Fahrtenschreiber, GPS-Daten, Videoaufzeichnungen, Streckenpläne und Inspektionsunterlagen wurden ausgewertet. „Danach können wir sagen, dass keine Mängel vorlagen.“ Alle Sicherheitsvorrichtungen funktionierten so, wie sie funktionieren sollten. Eine Verkettung von Zufällen, die es so deutschlandweit noch nie gab, habe aber dafür gesorgt, dass die eingebauten Mechanismen die Bahn nicht stoppten.

Die Fahrgastnotbremsung soll außerhalb von Haltestellen erst am nächsten Bahnsteig zum Halt führen. Wenn ein Fahrgast die Notbremse maximal acht Sekunden nach der Abfahrt zieht, kommt die Bahn automatisch zum Stillstand – die sogenannte Notbremsüberbrückung. Sind acht Sekunden vergangen, bekommt der Fahrer nur eine Meldung, dass die Notbremse betätigt wurde und entscheidet über das weitere Vorgehen. Da der Fahrer aber bewusstlos war, konnte er nicht reagieren.

Totmannschalter leitet Zwangsbremsung ein

Die Notfallentriegelung der Türen wurde laut Untersuchungsbericht nur fünf Sekunden nach der Fahrgastnotbremsung betätigt. Sie hat sofort Auswirkungen auf die Bahnfahrt, und zwar unabhängig von Fahrtzeit oder Ort. Dann wird automatisch der Elektromotor abgeschaltet – die Bahn rollt also aus, ohne gebremst zu werden. Der Totmannschalter der Sicherheitsfahrschaltung, kurz Sifa, greift, wenn der Fahrer handlungsunfähig wird. Er muss entweder einen Knopf am Fahrhebel oder ein Fußpedal dauerhaft drücken. Passiert das nicht, leitet die Elektronik nach wenigen Sekunden eine Zwangsbremsung ein.

Nach dem Vorfall in Bonn will die TAB nun alle Straßenbahnen mit einer neuen Sifa aufrüsten. Vorbild ist die Deutsche Bahn: In deren Zügen müssen die Lokführer regelmäßig einen Knopf drücken und loslassen. Passiert das nicht, muss die Technik spätestens nach 15 Sekunden automatisch bremsen. „Aber nicht mit einer Gefahrenbremsung, sondern mit einer Betriebsbremsung, wie sie beim Einfahren in Haltestellen benutzt wird“, erklärt Matthias Vollstedt, Hauptdezernent für Verkehr. Zu hoch sei das Risiko, dass die Fahrgäste beim ruckartigen Stillstand verletzt würden.

Auf Strecke der Linie 66 wird Fahren auf Sicht praktiziert

Zusätzliche Sicherheitseinrichtungen entlang der Strecke werden von der Behörde dagegen nicht gefordert. Vor Tunneln ist es beispielsweise üblich, dass die Bahn gestoppt wird, sobald sie ein rotes Signal überfährt – die Zugsicherung. Das Pendant ist das Fahren auf Sicht, was zwischen Siegburg und Beuel praktiziert wird.

Für die Umrüstung haben die Verkehrsbetriebe in NRW nun zwei Jahre Zeit. Wie sie das machen, sei ihnen selbst überlassen. „Wir haben einen technischen Zoo mit vielen verschiedenen Bahnen“, sagt Vollstedt. In Bonn gibt es beispielsweise runderneuerte Wagen aus den 1970er Jahren, die technisch moderner sind als die Nachfolger aus den 90ern. Nach Vollstedts Einschätzung könnten neueste Modelle relativ einfach durch Software-Updates verbessert werden. Verkehrsbetriebe in Baden-Württemberg machten das schon seit Langem. Dort muss der Fahrer auch nicht ständig einen Knopf drücken, was den Job komfortabler mache. „Stattdessen gilt auch die Klingel oder das Bewegen des Fahrhebels als Zeichen, dass der Fahrer handlungsfähig ist.“

Wie schnell SWB Vorgaben umsetzen, ist unklar

Wie schnell die Stadtwerke Bonn  (SWB) die Vorgaben umsetzen, ist derzeit noch nicht klar. Auch über die Kosten herrscht Unklarheit. „Wir werden uns intensiv damit auseinandersetzen. Die Sicherheit der Fahrgäste und Verkehrsteilnehmer hat für uns oberste Priorität“, sagt SWB-Sprecher Michael Henseler. Mit Blick auf neue Straßenbahnen der Marke Skoda, die schon bestellt sind, könnten auch Auftragsänderungen nötig werden, in die dann die Kommunalpolitik einbezogen werden müsse.

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